Lene leuchtet
Kurz bevor Lene auf den Button „Veröffentlichen“ klickt, atmet sie noch einmal tief ein. Ihr Blick fällt auf die blaue Tasse mit dem Blumenkranz, aus der schon ihre Großmutter Kaffee getrunken hat. „Die Leuchtende“ steht mit weißen Buchstaben in der Mitte des Kranzes. Dass der Vorname ihrer Großmutter dieselbe Bedeutung hat, wie Lenes eigener Name, zaubert ihr auch heute noch ein Lächeln ins Gesicht. Nicht immer hat Lene das Gefühl, dem Programm dieses Namens gerecht zu werden. Zugegeben, es wäre auch ein fast unmenschlicher Anspruch, permanent als Licht der Welt erkannt zu werden. Und gleichsam fragt sich Lene oft, ob das nicht genau der Mindestanspruch an sich selber sein müsste.
Als sie mit ungefähr 17 Jahren entdeckte, dass sie eine besondere Begabung für Sprache hat, fing Lene an, ihre Gedanken aufzuschreiben. Mal in Gedichtform. Mal als Geschichte. Und später, so mit Mitte zwanzig, dann als Thesen-Video. Das war neu. Niemand vor ihr hatte so etwas schon mal derart erfolgreich gemacht. Ein Freund hatte Lene sein Kameraequipment geliehen. Und sie fand Gefallen daran, mit ihren Wörtern und der Art und Weise, wie sie sie erzählte, zu spielen. Dass sie damit so schnell über 40.000 Menschen erreichte und ihnen offensichtlich aus dem Herzen sprach, hatte sie selber überrascht. Und gefordert. Neben dem großen Zuspruch gab es auch genug Menschen, die sie angriffen. Mit Hassnachrichten und manchmal sogar persönlich auf der Straße. Die Drohungen setzten ihr zu. Und immer wieder überlegte sie, ob sie ihr Talent nicht an anderer Stelle einsetzen sollte.
Lenes Blick fällt nochmal auf die Tasse ihrer Großmutter. Sie atmet aus. „Hier sitze ich nun und kann nicht anders“, denkt sie. Und drückt mit der Maus auf den entscheidenden Knopf.
von Miriam Tepel