Ich sehe was, was du nicht siehst!

Ich sehe was, was du nicht siehst … Ein Spiel aus Kindertagen.

„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist: blau!“
„Mein T-Shirt?“
„Nein!“
„Das Auto da?“
„Nein!“
„Jetzt weiß ich’s: der Himmel!“
„Ja genau.“

Auf langen Zug-, Bus- oder Autofahrten haben wir uns als Kinder mit diesem Spiel die Zeit vertrieben. Es trainiert das Scharfsehen und den Scharfsinn. Denn manches, was ich sehen kann, kann mein Spielpartner ja tatsächlich nicht sehen – jedenfalls nicht ohne Hilfsmittel: seine eigene Augenfarbe zum Beispiel. Oder die Sommersprossen auf seiner Nase. Die Zahnlücke zwischen den eigenen Zähnen oder die Ohren.

Ich sehe was, was du nicht siehst. Auch anderes kann ich sehen, was mein Gegenüber nicht sieht. Ich habe zum Beispiel eine Freundin, die mit sich selbst wahnsinnig streng ins Gericht geht. Sie hadert mit ihrem Körpergewicht, ihrem Aussehen, ihrer Arbeit. Und manchmal, da möchte ich ihr am liebsten sagen: „Du, ich sehe was, was du nicht siehst. Wo du zu viele Kilos siehst, da sehe ich wunderbare Weiblichkeit. Und wo du dich zu groß findest, da sehe ich eine Frau, die man wahrnimmt, wenn sie den Raum betritt. Wo du dich kritisierst für all das, was du nicht kannst, da sehe ich all das, was du statt dessen kannst. Wo du dich selbst nicht leiden kannst, da sehe ich einen Menschen, der mir lieb und teuer ist. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist: eine treue Freundin, die ich schätze und mag, so wie sie ist.“

Überlegen Sie doch mal: ob Sie Menschen in Ihrem Umfeld wissen, die von einer solchen Sehschule profitieren könnten? Vielleicht gehören Sie ja selbst dazu…?

Und raten Sie mal, wie Gott wohl auf uns schaut, auf mich und dich!

Ich sehe was, was du nicht siehst:
und das ist ein Kind Gottes, wunderbar gemacht.
Mit einem Lachen, das ansteckt,
mit einer Meinung, die aneckt,
aber zum Weiterdenken zwingt.
Mit Sommersprossen zum Niederknien,
mit Ideen, die andere mitziehen,
mit einem Zuhören, das stille Wasser zum Reden bringt.

Ich sehe was, was du nicht siehst:
und das ist deine gastfreundliche Art,
das ist Mut und Bescheidenheit,
das ist eine Umarmung ganz zart.
Das ist dein Lächeln, dein Verzeihen,
von dir kann man alles ausleihen,
bei dir findet meine Seele Ruh.
Du kannst Schweres leichter machen,
Begeisterung entfachen,
mit Zuversicht aufwachen,
über dich selbst lachen –

Ich sehe was, was du nicht siehst: und das bist du.

Wenn wir das einander immer wieder sagten: was wir sehen an Schönem, an Großartigem, an Liebenswertem! Wenn wir das immer wieder hörten: was an uns wunderbar ist – dann könnten wir vielleicht irgendwann aus ganzem Herzen einstimmen in den Jubelruf des Psalmdichters: „Ich danke dir, mein Gott, dass ich wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke! Das erkennt meine Seele.“

Viele Grüße
Laura Artes, Pfarrerin

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